Texte

YU-ICHI

YU-ICHI gehört zu den bedeutendsten Künstlern Japans im 20. Jh., dessen Namen im gleichen Atemzug mit Franz Kline, Robert Motherwell, Pierre Alechinsky, Henri Michaux genannt wird. Der Kritiker Herbert Read erwähnt YU-ICHI in seinem Buch „A Concise History of Modern Painting“, in dem auch eines seiner Werke abgebildet ist. Robert Motherwell beschreibt ihn in seinen Notizen als einen der wenigen grossen Künstler der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts.

Obwohl die Teilnahme an der II. documenta 1959 in Kassel und Ausstellungsbeteiligungen 1963 im Stedelijk Museum Amsterdam, in der Kunsthalle Baden-Baden und 1965 in der Galerie Zwirner Köln YU-ICHI zur Popularität verhalfen, verzichtete er auf regelmässige Ausstellungen und konzentrierte seine Energie auf das künstlerisches Schaffen. Eine äusserst selbstkritische Haltung und Bewertung seiner Werke und die Vernichtung von allem „Minderwertigem“ führte dazu, dass sein gesamter Nachlass in einem dreibändigen Werkverzeichnis, erscheinen konnte.

YU-ICHI vermittelt seine künstlerische Energie durch Schriftzeichen kanji, die er als Metapher benutzt um sein künstlerisches Anliegen, seinen inneren Zustand, mitzuteilen. Dabei geht es ihm nicht um die Ästhetik der Zeichen, sondern um Konzentration auf die freie Entfaltung seiner inneren Kraft, die sich durch das Schreiben unmittelbar ausdrückt. Er überwindet die traditionelle Kalligraphie zugunsten einer radikalen Expressivität. Schon früh wird er als Künstler international anerkannt, wie seine Teilnahme an wichtigen Ausstellung-en belegt: documenta II, Kassel; National Museum of Modern Art, Tôkyô und Kyôto; Museum of Modern Art, New York; Stedelijk Museum, Amsterdam; Galerie Zwirner, Köln.

Seit 1993 besitzt die Japan Art Galerie die Exklusivrechte für die Ausstellungs- und Verkaufsaktivitäten des YU-ICHI - Nachlasses für den europäischen Raum.

Japan Art - Galerie Friedrich Müller



Das Phänomen YU-ICHI

Im Jahr 1995 waren in der Schirn Kunsthalle Frankfurt mehr als dreißig Werke Inoue Yu-ichis (auch YU-ICHI, 1916 – 1985) ausgestellt, die das Schriftzeichen HIN 貧 zum Gegenstand hatten. Entstanden waren diese Werke über einen Zeitraum von vierundzwanzig Jahren, von 1954 bis 1977. Das Zeichen bedeutet „Armut“ - ein höchst unzeitgemäßer Begriff in den Jahren, in denen diese Werke entstanden und in denen Japan nach der Katastrophe des II. Weltkriegs sich anschickte, zur führenden Wirtschaftsmacht Asiens aufzusteigen. Diese Zeichen nebeneinander aufgereiht in der langgestreckten Ausstellungshalle wirkten wie eine Art groteskes Ballett - denn je länger man schaute, desto mehr wurde man gewahr, dass in jedem dieser Zeichen in Wirklichkeit ein Mensch zu sehen war, mit einem großen Strohhut, einem recht massigen, kantigen Körper und zwei ein wenig kurz geratenen Beinen, die einmal zu rennen schienen, ein andermal zu tanzen oder auch als stolpern. Vielleicht vollkommen unbewusst hat YU-ICHI hier über viele Jahre hinweg immer wieder so etwas wie ein Selbstporträt geschaffen - man kann auch sagen: ein Spiegelbild seiner inneren Befindlichkeit.

In einem Interview hat sich der Künstler selbst zu diesem Zeichen-Zyklus geäußert:

„Ich habe von den Füßen aus angefangen (1), mit der linken Hand schreibend. Dann habe ich den Körper geschrieben, den Kopf und den Hut, immer noch mit der linken Hand. Gewöhnlich schreibe ich mit der Rechten. Hier habe ich die Linke benutzt und von unten aus angefangen, um die Form zu brechen, an die ich gewöhnt war. Man muss immer versuchen, etwas Neues zu erreichen. Sobald man der Gefangene bestimmter Formen ist, dreht man sich im Kreise. Deshalb muss man die Formen brechen.“ (2)

An diesen Worten kann man ablesen, wie der Künstler mit dem Thema Schrift umgeht. Üblicherweise ist die Kalligraphie selbst in ihren expressivsten Ausdrucksformen eine sehr stark in einer Jahrhunderte alten Tradition befangene Disziplin. Sie wird üblicherweise von feingeistigen, gebildeten, kunstsinnigen Menschen ausgeübt, die sich als eine Art intellektuelle Elite empfinden. Dies gilt für Japan ebenso wie für China, wo die Ostasiatische Kalligraphie als eine Disziplin der ästhetischen Vervollkommnung bereits vor fast zwei Jahrtausenden ihren Anfang nahm.

YU-ICHIs Worte zeigen, dass es ihm darum geht, radikal mit allen überkommenen Regeln zu brechen und die Schriftkunst völlig neu zu denken. Dies hat viel zu tun mit dem Alptraum eines vernichtenden Krieges, der mit zwei Atombomben im August 1945 endlich auch in Japan sein Ende gefunden hatte, und den YU-ICHI selbst beim großen U.S.-Luftangriff auf Tôkyô im März desselben Jahres nur mit knapper Not überlebt hatte. Nach diesem Inferno, so waren sich viele der Betroffenen sicher, würde nichts mehr so sein können wie vorher. Und viele junge japanische Künstler der späten 1940er und frühen 50er Jahre suchten sehr bewusst einen radikalen Neuanfang, in der Happening-Kunst (von der man sagen kann, dass sie in Japan erfunden wurde), in der Malerei des Abstrakten Expressionismus oder eben auch in der Avantgarde-Schriftkunst, die überraschend viel mit den Pinsel-Eruptionen eines Jackson Pollock, Franz Kline, Hans Hartung oder Pierre Soulages zu tun hatte. Die Avantgardisten der Kalligraphie schlitterten hinein in einen die gesamte japanische Kunst-Avantgarde erfassenden und angesichts der wirtschaftlichen Not der Nachkriegsjahre erstaunlichen Aufbruch zu neuen Ufern, wild, ungestüm und auf der Suche nach der großen Freiheit - nach langen Jahren einer unter einer furchterregenden Diktatur. Für YU-ICHI kam hinzu, dass er, der sich seit den 1930er Jahren als bescheidener Volksschullehrer seinen Lebensunterhalt verdienen musste, immer wieder von den Upper-Class-Kalligraphie-Zirkeln seiner Zeit ausgegrenzt fühlte, die damals üblicherweise das Sagen hatten. Andererseits war gerade diese Underdog- und Außenseiterrolle für ihn eine große Chance. Sie sicherte ihm die Freiheit, künstlerisch nur das zu tun, was er selbst für richtig befand - und sich nicht nach den Erwartungen bestimmter Interessengruppen richten zu müssen.

Zweifellos prägend für den jungen Inoue Yûichi war zum einen seine anfängliche Ausbildung in der Malerei und dass er immerhin von 1942 bis 1950 Schüler bei dem Avantgarde-Schriftkünstler Ueda Sôkyû (1899 - 1968) war, der in Japan ein Pionier einer völlig neuen Form der Kalligraphie war. Ueda sah die Kalligraphie als Ausdruck der Individualität des Künstlers, frei von allen Restriktionen, die den Schriftzeichen innewohnten, so lange man in ihnen nicht nur visuelle Zeichen sondern auch Träger bestimmter verbaler Botschaften sah. Konsequenterweise gab es in YU-ICHIs Frühwerk aus den mittleren 1950er Jahren auch Arbeiten, die allein abstrakt-expressionistische Malerei waren, sich also von lesbaren Zeichen völlig entfernt hatten.
Immerhin erreichte YU-ICHI in den 1950er Jahren trotz seiner Außenseiterrolle einen durchaus bemerkenswerten Bekanntheitsgrad, der auch deutlich über die japanische Avantgarde-Kalligraphie-Szene hinausreichte. So wurde er u.a. 1954 in einer Schau über japanische Kalligraphie in New York ausgestellt, war 1957 Teilnehmer der 4. Biennale von Sao Paolo und 1959 Teilnehmer der documenta II in Kassel.

Doch mit dem Siegeszug der Pop Art in den U.S.A. in den 1960er Jahren, mit dem der Abstrakte Expressionismus zunehmend ins Abseits rückte, wurde es auch deutlich stiller um die japanische Avantgarde-Kalligraphie - zumal was ihre internationale Rezeption angeht. Und so wurde auch YU-ICHI erst einige Jahre nach seinem Tod 1985, vor allem aufgrund des unermüdlichen Wirken seines Nachlassverwalters, des Verlegers und Galeristen Unagami Masaomi (Galerie UNAC Tokyo) seit den frühen 1990er Jahren allmählich wiederentdeckt. Sein Werk wird seit rund 20 Jahren in Japan selbst, aber auch in China, in Europa und in den U.S.A. mit zunehmendem Interesse rezipiert, und YU-ICHI gilt heute als der vielleicht bedeutendste Schriftkünstler Japans im 20. Jahrhundert.

Die Galerie Japan Art, die sein Werk seit den 1990er Jahren exklusiv in Europa vertreibt, widmet YU-ICHI im Herbst 2016 eine Sonderschau, die einen faszinierenden Querschnitt durch unterschiedliche Schaffensphasen dieses herausragenden Künstlers bietet.

Stephan von der Schulenburg, 2016


(1) Nach den Standardregeln der Kalligraphie müsste man das Zeichen eigentlich von links oben nach rechts unten schreiben.
(2) zitiert nach dem Videofilm YU-ICHI. SCRIBO ERGO SUM, UNAC Tokyo, 1994.



INOUE YÛICHI


„Die Form selbst, wenn sie auch ganz abstrakt ist, hat ihren inneren Klang.“
Wassily Kandinsky 1912

Ein seltsamer Zauber geht aus von den abstrakten Tuschebildern des Inoue Yûichi. Stehen wir vor einem von ihnen, dann dauert es nicht lange und es beginnt ein Dialog. Unsere Augen folgen der Spur des Pinsels, werden von seiner Bewegung gefangen. Das im Inneren der Betrachter anklingende Kunstwerk auf dem riesigen Papier an der Wand, dem jeweils ein chinesisches Schriftzeichen zu Grunde liegt, durchbricht die Barriere der einander fremden Kulturen und teilt sich mit. Jedes chinesische Schriftzeichen hat seine, ihm ganz eigene Bedeutung. Es ist kein Buchstabe, der nur einen Laut wiedergeben würde. Es ist ein Sinnzeichen. Mit seiner Niederschrift ist stets irgendetwas genannt: ein Wesen, ein Gegenstand oder vielleicht ein Gedanke. Mit seiner über mehrere Jahrtausende hin gewachsenen Form besitzt es schon von sich aus, selbst in seiner gedruckten Form, eine spürbare Präsenz.

Den westlichen Betrachtern, denen die Zeichenschrift Ostasiens weitgehend fremd ist, erschien Inoue Yûichi als „abstrakter Expressionist“. Künstler wie Robert Motherwell, Franz Kline oder Pierre Soulages schätzten ihn bald als einen der ihren. Unter den Händen von Yûichi erhielt das geschriebene Zeichen eine durchaus magische Kraft. Damit überwand er die Grenzen seines eigenen, asiatischen Kulturkreises. Er zerriss die Schablone, mit der man im Westen gewohnt war, sich die japanische Kultur als exotisch und unverbindlich lächelnd vorzustellen. Seine Kunst ist Lebensspur.

Wenn Yûichi sich auf einen Thema konzentrierte, dann verinnerlichte er es mit der Zeit derart, daß es regelrecht Besitz von ihm nahm. Dann wurde der Künstler gewissermaßen zum Berg (Yama), zum Vogel (Tori), zum Wind (Kaze). Und das Zeichenbild erschien auf dem Papier, ehe er sich dessen so richtig bewußt werden konnte. Mit beiden Händen hob er den schweren, tropfenden Pinsel aus dem Eimer, in dem er die Tusche vorbereitet hatte, und klatschte ihn spritzend auf das Papier, auf dem er mit bloßen Füßen stand und sich mit der Spur des entstehenden Zeichens bewegte. Und dann war er da, der Berg. Oder der Wind. Und vielleicht der Vogel, falls er sich vorher mit ihm verbündet haben sollte.

Gelegentlich wurde seine Pinselführung leicht und schwebend wie in der Gestaltung des Zeichens für Traum (Yume), bei dem er den Pinsel erst leicht von oben her über das Papier huschen lässt, um ihn am Ende zur vollen Farbgebung darauf nieder zu senken. In seiner transparent vergänglichen Formgebung erinnert sein „Traum“ an das Zeichen für Wolke (Kumo). Und wolkengleich schwebt das Zeichen über dem Papier.

So war die „Kunst des Schreibens“ (Sho) für Yûichi niemals eine nur kalligraphische Wiedergabe des betreffenden Schriftzeichens. Sie war stets Ausdruck, leidenschaftlich dargeboten von Japans bedeutendstem Schreib-Künstler des 20. Jahrhunderts.

Peter-Cornell Richter, 2014



Tuschespuren - Lebensspuren
Die Schreibkunst des YU-ICHI

Im Frühjahr 1952 trafen sich vier Männer auf der Veranda des Tempel Ryôanji in Kyôto. Ihre Namen waren: Eguchi Sôgen, Inoue Yûichi, Morita Shiryû und Sekiya Yoshimichi.

Sie saßen dort nebeneinander auf dem von der Morgensonne erwärmten Holzboden und blickten auf den Garten. Der Steingarten des Ryôanji ist ein zeichenhaft angelegtes Symbol der Schöpfung. Der schweigsame Rhythmus der fünf, scheinbar willkürlich angeordneten Felsgruppen und die bewegungslosen, sorfältig mit einem breiten Rechen gezogenen Linien und Wellen der weißen Sandkiesel sind wie Kontinente und Meere, wie Materie und Leere. Der Garten ist ein Widerschein des Werdens und des Vergehens, eine Erinnerung an die Ordnung und die Bewegung des Universums. Kaum ein Ort ist besser dazu geeignet, eine Neuorientierung zu finden in Leben und Kunst. Zumal dann, wenn man beides miteinander identifiziert. Warum Neuorientierung? Was war geschehen? Jahrzehnte nationalistischer Überspanntheit hatten das geistige Leben Japans in Leblosigkeit geführt. Die Freiheit des Geistes und schöpferische Kraft waren nicht erwünscht. Die Künste verkamen in traditionalistischer Manie zur Imitation ihrer eigenen Vergangenheit. Erst die Niederlage der verkrusteten Selbstherrlichkeit und das Ende des Militärregimes ließen feine Regungen eines freien geistigen Lebens aufblühen. Und als dann schließlich mit der Zeit das Entsetzen über die furchtbaren Wunden des Krieges etwas nachzulassen begann, da entfalteten sich diese Blüten in allen Bereichen des künstlerischen Lebens. Gleichgesinnte Menschen fanden zueinander und beschlossen, gemeinsam die Wurzeln ihrer Tradition ausfindig zu machen und sie zu reinigen von jedem dogmatischen Befall. Und so fanden sie ein neues und zugleich altes, ein tragfähiges und zugleich bewährtes Fundament, auf dem sich Musik und Schreibkunst, Dichtung und Malerei neu entwickeln und dann schließlich auch international behaupten konnten.

Als die vier Freunde 1952 in Kyôto mit dem Garten des Ryôanji in Dialog traten, befreiten sie die japanische Kunst des Schreibens von dem inhaltslosen, rein dekorativ ausgerichteten Ideal der vergangenen Jahrzehnte. Sie gaben ihr die Seele zurück. Und gemeinsam machten sie sich auf die Suche nach dem Urgrund des Lebens, nach dem Wesen seiner Phänomene, nach dem Rhythmus. Nach jenem Rhythmus, der die lebendige Tuschespur bewegt. Nach dem Rhythmus, den die alten Meister der japanischen Schreibkunst zu leben gesucht hatten: Kûkai (774-835) oder Musô Sôseki (1275-1351), Ikkyû (1394-1481) oder Hakuin (1685-1768), Ryôkan (1757-1831) oder ihr Mentor und Lehrer Ueda Sôkyû (1899-1968). Ihre künstlerische Arbeit markiert seit jenem Tag im Jahr 1952 ihre Schritte auf diesem Weg. Es sind keine abbildenden Schritte. Sie sind vielmehr die Zeichen von allem, was sie auf ihrem Weg der Suche erfühlt und auch erlitten haben. Jeder auf seine Weise. Und sie alle vier waren sehr unterschiedlich geartete Menschen.

Einer von ihnen war YU-ICHI (1916-85). Seine Tuschespuren, die er oft mit riesigen Pinseln auf Papierbahnen, die den Boden seines Ateliers bedeckten, strich und schlug und spritzte, sind die unmittelbaren Lebensspuren eines Besessenen. Sein ganzes Leben wurde zu Schreibkunst. Und immer fand eine Verwandlung statt: Er wurde zum Tiger und zum Drachen, er wurde zum „heiteren Lachen“ und zum Vogel. Er wurde zu Pinsel und Tusche, zu Papier und Zeichen. Morita Shiryû, der Wortführer der Freunde, die sich an jenem Tag zur Künstlergruppe Bokujin-kai (Tusche-Menschen-Gesellschaft) formierten, hat es einmal so ausgedrückt: „Schreibkunstwerke (sho) sind Spuren, welche durch die Bewegungen der erlebenden Seele hinterlassen werden.“ Dabei wird der Künstler selbst zum Zeichen, und dieses wird für uns sichtbar, indem wir seinen Rhythmus erspüren. Das Leben des Künstlers und das Schriftzeichen formen sich gemeinsam zu dem, was wir auf dem Papier als Schreibkunst erkennen und nacherleben können.

Das chinesische Schriftzeichen (jap.: kanji), einst als Bildzeichen entstanden, hat im Laufe vieler Jahrhunderte seinen ursprünglichen Bild-Charakter weitgehend verloren. Es ist zum Sinn-Zeichen geworden. Durch stetes Üben mit dem Tuschepinsel wird es mit der Zeit vertraut, und nach Jahren der genauen Wiedergabe aller Formen seiner Erscheinungsmöglichkeiten in Druckschrift oder als „fließendes“ handschriftliches Zeichen, kann es geschehen, daß man unter der Obhut eines erfahrenen Lehrers zu jener Meisterschaft findet, die es bewirkt, dass in dem geschriebenen Zeichen ein Schimmer der Seele Gestalt annimmt. Ist das geschehen, dann ist es für den Betrachter gar nicht mehr wichtig, die ursprüngliche Form des Kanji wiederzuerkennen. Wichtig ist für ihn alleine das Empfinden des rhythmischen Klangs, der aus dem Bild zu ihm spricht. So haben auch wir Europäer durchaus die Möglichkeit, diese für uns zunächst vollkommen abstrakt wirkenden Bild-Zeichen in uns aufzunehmen.

Auch wenn sie immer wieder an Action Painting oder Informel erinnern, an Arbeiten von Jackson Pollock, Hans Hartung, Marc Tobey, Pierre Soulages oder Morris Graves (die außer Pollock alle durch das äußere Bild der ostasiatischen Schreibkunst beeinflußt worden sind), so sind sie doch keine Malerei an sich, sondern eher Bild gewordene Schrift. Sie haben stets einen sehr konkreten Inhalt. Einen Inhalt, der den Künstler bereits als Wortzeichen beherrschte, als er noch das leere Papier vor sich liegen hatte. Sie sind der Sinn dieses Zeichens, das ihn zum Handeln trieb. Sie sind der Sinn, der aus der Begegnung der Persönlichkeit mit der Idee des Kanji entstanden ist.

Die Bewegung von YU-ICHI, die Bewegung seines Körpers und seiner Hand, folgte seiner inneren Dynamik, die er im Augenblick der vollkommenen Verschmelzung mit dem Thema durchlebte. Und da schrieb er dann sein Leben aus sich hinaus. YU-ICHI und Zeichen und Bild, sie wurden stets zu einer, oft unter Schmerzenund Schreien geborenen Einheit. Immer wieder begegnet uns YU-ICHI als Vogel (tori). Als Vogel belebt er private und öffentliche Kunstsammlungen rund um die Erde. Diese Bilder sind keine Abbilder jener Wesen oder ihres Zeichens „tori“. Sie sind Lebensspuren. Sie sind Flügelschlagen und Gesang, sie sind Flugbahn und Nest, sie sind Vogel-Leben und Vogel-Sterben. Sie sind die Spuren, welche die Bewegungen der Seele von YU-ICHI zeigen, als er Vogel war. Sie sind Spuren, wie sie nur ein Vogel zeichnen könnte. Und aus der weißen, leeren Fläche der riesigen Papiere erheben sich diese Spuren als geistige Form. Darin liegt eines der Geheimnisse dieser lebendigen ostasiatischen Kunst. Vor etwa 900 Jahren schrieb der Dichter Su Dongpo über seinen Freund, den Maler Wen Yuke: „Sobald Yuke Bambus malt, hat er sein eigenes Selbst vergessen. Er hat sich in Bambus verwandelt.“

Wenn YU-ICHI sich verwandelte, dann geschah dies auf eine ganz andere Weise. Nicht alleine durch das Vergessen des eigenen Selbst, nicht alleine durch ein unmerkliches Hinübergleiten in die Identität eines Vogelwesens oder Drachens. Wenn YU-ICHI sich verwandelte und schutzlos war im Augenblick dieser innerlichen Veränderung, dann brach etwas in ihm hervor. Heftig war es, eruptiv und dämonengleich. Und aus leidenschaftlich wilder Bewegung heraus entstand auf dem Papier, das er auf den Boden ausgebreitet hatte, das Zeichen. Geschrieben von YU-ICHI und einer ihn antreibenden Macht, die einst, am frühen Morgen des 10. März 1945, Teil seines Wesens geworden war.

An jenem Tag hatte man ihn zwischen mehr als eintausend verbrannten Leichen bewußtlos aufgefunden. Die Menschen hatten sich in die Yokogawa-Schule geflüchtet, an der er Lehrer war. An jenem furchtbaren Tag hatten in Tôkyô weit über einhunderttausend Zivilisten im Phosphorfeuer der Brandbomben eines Luftangriffs ihr Leben verloren. Dieses verzehrende Feuer brannte in ihm weiter. Unlöschbar, sein ganzes Leben hindurch. Und immer, wenn er malte, dann war da die Erinnerung an die unmittelbare Nähe des Todes, und er warf sein ganzes Selbst in das Bild, als wäre es sein letztes. Sein ganzes Selbst, das in diesem Moment Todeserfahrung war und Schriftzeichensubstanz zugleich.

33 Jahre nach jenem Morgen des Luftangriffs schrieb YU-ICHI, einer buddhistischen Tradition folgend, die Totenklage für die Menschen, zwischen deren Leibern er damals, als einer von ganz wenigen, überlebt hatte: „Ah Yokogawa kokumin gakkô!“ (Ach, Volksschule Yokogawa!). Als er die Schriftzeichen auf das Papier hieb, geriet ihm das Blatt zu einem unmittelbaren Abdruck der schmerzenden Wunde in seiner Erinnerung. Mit Graphitkreiden zerfetzte er das Weiß. Trieb sich an mit zwischen den Zähnen hervorgepressten Worten, in deren Stakkatorhythmus die Schrift über das Papier lief und sich ausbreitete zu einem Schrei. Und so schrieb er in dieses Papier die Partitur jenes entsetzlichen Tages. Die Totenklage endet mit den Worten: „Wie könnte ich jemals die verzweifelten Schreie der Kinder und der Erwachsenen aus meinem Gedächtnis reißen?“ Er konnte es nicht. YU-ICHI schrieb, wie Morita Shiryû es ausdrücken würde, die Spur seiner einst für immer verletzten Seele.

Im Frühjahr 1952 trafen sich vier Freunde im Garten des Ryôanji in Kyôto. Einer von ihnen war der junge Lehrer YU-ICHI. Er hat damals den stillen Rhythmus des Gartens in sich aufgenommen und die darin enthaltene Urgewalt des Kosmos mit ihrer Schönheit und mit ihren Schrecken zu seiner künstlerischen Sprache gemacht. Er hat sich fortan in Vögel verwandelt, in Drachen und in Tiger, in Tod und in Leben. Diese Verwandlung gelang ihm so vollkommen, daß jedes seiner geschriebenen Kunstwerke ein Stück seines Lebens der Schöpfung zurückgab. YU-ICHI starb 1985 im Alter von 69 Jahren.

Peter-Cornell Richter, 2005



YU-ICHI und sein Leben

YU-ICHI wurde 1916 in der Innenstadt von Tokio geboren. Zunächst wurde er zum Maler ausgebildet, begann aber im Alter von fünfundzwanzig Jahren Sho zu lernen. Einige Bemerkungen zu dem Meister, unter dessen Anweisungen er lernte, könnten hilfreich sein. Er wählte Sôkyû zu seinem Meister und lernte von ihm die klassische Kalligraphie. Sôkyû hatte sein Sho unter der Anleitung von Tenrai gelernt, der sich seit Beginn des Jahrhunderts mit der klassischen Kalligraphie Chinas intensiv beschäftigt und der die verschiedenen Einflüsse auf die Arbeit beim Prozeß des Schreibens mit einem Pinsel analysiert hatte. Er zeigte, wie wichtig die Wirkungen einer Linie seien, die durch einen ausreichend langen, weichen Pinsel gezogen wurde. Das, behauptete er, sei die Grundlage für das Erlernen von Sho als künstlerischer Selbstausdruck. Beeinflußt durch Tenrai, war Sôkyû derjenige Student zu der Zeit, der am leidenschaftlichsten ein Interesse für Kunst zeigte.

YU-ICHI hatte sich dem Erlernen des klassischen Sho ungefähr sieben Jahre gewidmet, als sein Meister vorschlug, daß er Sho zwecks einer Ausstellung nun in der Weise versuchen solle, wie er es selber begriff, anstatt immer die klassische Kalligraphie zu imitieren. Er war völlig verloren, wußte nicht was und wie schreiben, aber legte die von ihm hergestellten Arbeiten vor. Zu seiner Enttäuschung wurden sie jedoch alle abgelehnt. Plötzlich kam ihm die Idee, eine Arbeit aus den buddhistischen Schriften vorzulegen, die er am hundertsten Tag nach dem Tod seines Vaters zu dessen Gedächtnis angefertigt hatte. Er nahm sie von der Wand eines buddhistischen Familienaltars, woran sie geheftet waren, und brachte sie seinem Meister, um dessen Kommentar dazu zu hören. Da sein Meister die Arbeit hoch lobte, reichte er sie für eine Ausstellung ein, und sie erlangte dort hohes Ansehen. Damals wurde ihm bewußt, daß Kreativität im befreiten Geist des Künstlers besteht.

Diese Einsicht befähigte ihn gleichwohl nicht, Arbeiten dergestalt hervorzubringen, daß sie seine persönlichen Erfahrungen widerspiegelten. Er wurde immer mit der Schwierigkeit konfrontiert, daß er nicht in der Lage war, genau das zu sehen, was er ausdrücken wollte: denn er war durch gerade jene Techniken und Wissensschemata daran gehindert, die er während des Studiums erworben hatte. Deshalb machte er verzweifelte Versuche, mit der Benutzung von Emaille den Kern seines künstlerischen Ausdrucks zu finden, befreit von jeglichem Begriff von Kunst, von jedem Wissen über Kalligraphie und sogar dem Bewußtsein, etwas zu schaffen.

YU-ICHI führte zu diesem Zeitpunkt Tagebuch, und es zeigt eine tiefe Beschäftigung mit seinen Bildern, selbst bis zu einem exzessiven Umgang damit, der einem normalen Menschen als verrückt erscheinen mag. Der folgende Auszug aus seinem Tagebuch ist typisch:

„15. April 1955. Werde mich morgen an die Emaille-Malerei machen. Alles vergessen. Ich muß alles verleugnen! Ich muß alles verwerfen, selbst Schriftzeichen! Zur Hölle damit! Reiß das Papier runter und zerstöre es mit einer Linie aus Emaille. ... 3.Mai. Schließe beim Malen deine Augen und bündele deine Aufmerksamkeit auf die Bewegung des Pinsels. Kümmere dich niemals um etwas und male einfach weiter. Die Form darf deine Bewegung in keiner Weise einschränken. Dein ganzer Körper und dein Geist müssen von dem Pinsel geführt werden. Versuche ganz wagemutig und arrogant in der Bewegung zu sein. Malen ist nichts als eine Handlung, bei der man alles verneint und zerstört! ... 8. Juni. Wie gräßlich! Jedes große Gemälde bisher ist nicht gelungen. Der Schweiß tropft mir in die Augen und hindert mich am Sehen. Meine Füße sind von dem Emaille klebrig und verdreckt. Nur Papier und Emaille werden dabei immer aufgebraucht - verschwendet! Papier auf dem chaotischen Fußboden ausgebreitet, mit den klebrigen Füßen weitergemalt, die Hände voll tropfender Emaille .. Völlig darin aufgehen, mit dem Pinsel zu kratzen. Das Ergebnis der Malerei ist das Ding, das mir am wenigsten ausmacht. Plötzlich bemerkte ich, daß die Emaille im ganzen Raum verteilt war. Es war mein Fehler. Nun, ich kann nichts dran machen. Vergiß, was der Hausbesitzer dazu sagen wird! ... Linien sollten weder horizontal noch vertikal verlaufen, weder gerade noch krumm. Sie müssen über allem andern nichts sein. Nichts, das ich sehen kann. ... Meine Augen sind voller Schweiß. Welch ein Mist! Keine Chance, das los zu werden. Verdammt!“

Nach diesem verzweifelten Versuch mit Emaille, begann er sich auf das Schreiben von einzelnen chinesischen Schriftzeichen zu konzentrieren. Er vermied dabei bewußt, soweit es möglich war, diejenigen Zeichen, die eng mit einem bestimmten Begriff verbunden sind bzw. als Kommunikationsmittel benutzt werden. Er mag sich gedacht haben, daß der Wunsch auf Seiten des Publikums, die Schriftzeichen zu entziffern und sie in ihrer wörtlichen Bedeutung zu verstehen, einer Schätzung der Schriftzeichen als freier Ausdruck in einem vorgegebenen Raum im Wege stand.

YU-ICHI bewältigte das Problem des Raums, nachdem er sich der Erfahrung des Action Painting ausgesetzt hatte, und vervollkommnete einen Stil, der es ihm erlaubte, Zeichen zu schreiben, die er persönlich im Prozeß des Schreibens erfahren hatte. Bei der Arbeit breitete YU-ICHI zunächst ein großes Blatt Papier auf dem Fußboden eines riesigen Zimmers aus und nahm dann einen Eimer voll Tusche. Er lief über das Papier, wie es ihm gefiel und schrieb dabei Zeichen. Die Zeichen, die er interessant fand, wurden einzeln ausgeschnitten. Deshalb findet man in seinen Arbeiten zuweilen zusätzlich zu den Zeichen selbst schwarze Punkte, Kreise oder stabartige Linien. Aber sie sind genauso faszinierend wie die Zeichen selbst, denn sie sind genauso lebendig und voller Energie! Immer wieder schrieb er dieselben Zeichen auf einige hundert Blätter Papier, um den natürlichen Körperrhythmus an seine äußersten Grenzen zu treiben.

Während der ersten Phase seiner Arbeit, die darin bestand, immer und immer wieder bis zur völligen körperlichen und geistigen Erschöpfung zu schreiben, traf er keine Auswahl. Dann stand die Aufgabe der Auswahl an. YU-ICHI bestand darauf, daß dies die schwierigste Phase war. Er heftete immer drei Blätter nebeneinander an die Wand und prüfte sie eingehend mehrere Tage lang; dann warf er sie eins nach dem anderen zu Boden. Das ausgewählte Stück war das letzte Blatt oder manchmal die letzten zwei oder drei Blätter, bei denen er sich nicht entscheiden konnte. Über das Format der Arbeit entschied er durch Zuschneiden des Blattes in der Größe, die er wollte. Der ursprünglich piktorale Raum wurde dadurch von der „Aktion“ beherrscht, die der Pinselstrich erforderte. Er verbrannte alles, was er verworfen hatte. Deshalb sind die ausgestellten Arbeiten von YU-ICHI nicht sehr zahlreich, doch sie sind das Ergebnis einer enormen Arbeit, deren letzte Spur ausgelöscht worden ist.

Etwa um 1970 begann YU-ICHIs Arbeit an den einzelnen Schriftzeichen das Maß an erreichter Fertigkeit zu zeigen: er beherrschte den Pinsel mittlerweile vollkommen und war in der Lage, ihn sich in Übereinstimmung mit der vitalen Energie seines inneren Selbst bewegen zu lassen. Mit anderen Worten, er konnte sein inneres Leben in einer streng strukturierten Weise zum Ausdruck bringen, dabei jedoch weder vom Begriff noch von der Form des Zeichens eingeschränkt. Selbst die Tusche scheint eine besondere Stärke geltend zu machen. Damit gründete er den Ausdruck einer „Zeichnung“, die im perfekten Gleichgewicht mit der definierten Räumlichkeit eines Bildes steht. Sein Stil wurde immer lebendiger und frischer und erinnerte ein wenig an leichte Skizzen. Hier tritt die voll entwickelte écriture YU-ICHIs in Form von Kalligraphie hervor.

YU-ICHIs Arbeiten sind die Widerspiegelung des Geisteszustandes, in dem er sich befand, als er sie schuf; sie sind weder als Parabel noch als Allegorie gemeint. Aus diesem Grund hinterlassen seine Werke einen starken Eindruck, auch wenn die geschriebenen Zeichen nicht zu erkennen sind. Sein ganzes Ich wird in der Form seines emanzipierten inneren Lebens unverändert ausgedrückt, ohne in die Falle der Zeichen, des Gleichgewichts oder des Begriffs der Zeichen gegangen zu sein. Man könnte es als eine neue Art betrachten, die Welt des Willens auszudrücken, die in jedem Zeitalter, von denen, die mit Schriftzeichen leben, konstruiert wird. In diesem Sinne muß man YU-ICHI sowohl von den Action Painters in den USA als auch von den Tachisten in Europa unterscheiden.

Kein anderer hat in diesem Umfang einzelne Zeichen geschrieben. Traditionelle Kalligraphen betrachten YU-ICHIs Arbeiten überhaupt nicht als Kalligraphie. YU-ICHIs Werk stellt einen völligen Durchbruch dar, eine Art zu malen, die Schriftzeichen einsetzt, um kraftvoll die Faszination des piktoralen Raums auszudrücken.

1958 wurde YU-ICHI ausgewählt, um Japan bei der brüsseler Ausstellung „Fünfzig Jahre moderne Kunst“ anläßlich der Weltausstellung zu vertreten. Seine Arbeit wurde zwischen den Arbeiten der Abstrakten Expressionisten ausgestellt. Von diesem Zeitpunkt an mußte man YU-ICHI als einen der Künstler ansehen, die Tokio in die internationale Kunstszene eingeführt hatten. Nationale Kultur, die nach dem freien Zugang zur internationalen Kultur neu überdacht wird, ist etwas anderes als die chauvinistische Kultivierung einer nationalen Folklore. Auf der Schwelle zum Einundzwanzigsten Jahrhundert ist das Werk von YU-ICHI ein Teil der Suche nach einem neuen Humanismus. Eine Sensibilität, die in der tumultuösesten Stadt der Welt aufgeblüht ist, einem internationalen kulturellen Schmelztiegel, hat einen Stil des Schreibens hervorgebracht, der einem Geist entspringt, der nun dem Dialog zwischen Ost und West gewidmet ist.

Masaomi Unagami, 1993


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